Kurt Bodewig Bundesminister a.D.

Rede zur EU-Ostsee-Strategie

11.09.2009

Ich freue mich, dass ich hier und heute zu Ihnen zum Thema Ostseestrategie sprechen kann. Fünf Jahre nach der EU-Erweiterung ist die Ostsee zu einem europäischen Gewässer geworden. Neun Länder grenzen an die Ostsee: acht EU-Staaten und Russland. Mehr als 100 Mio. Menschen leben in der Nähe der Ostsee. Die Ostsee ist das einzige europäische Binnenmeer!

Aber dieser Raum steht vor enormen Herausforderungen: der Ostseeraum ist geprägt durch seine geographische Ausdehnung, die geringe Bevölkerungsdichte und die unterschiedliche Entwicklung der Anrainerstaaten. Und die Qualität der Ostsee verschlechtert sich. Zudem herrschen bedingt mäßige Verkehrsverbindungen, Handelshemmnisse und Probleme bei der Energieversorgung. Diese Probleme können nur gemeinsam und im Rahmen der EU bewältigt werden!

Die Ostsee-Kooperation der letzten Jahre hat dazu beigetragen, die Zusammenarbeit von EU-Mitgliedstaaten im Ostseeraum, den Beitritt von Ostseeanrainerstaaten in die EU und die Entwicklung der Partnerschaft mit Russland positiv zu gestalten. Aber das reicht nicht aus: die Kooperation zwischen den Partnern fehlt!

Eine gut dreijährige Diskussion, an der ich mich als Stellv. EU-Ausschussvorsitzender mehrmals auf verschiedenen Ebenen beteiligt habe, hat nun einen respektablen Abschluss gefunden. Im Juni hat die Europäische Kommission die Ostseestrategie vorgestellt. Mit der Strategie strebt die EU für den Ostseeraum erstmals in ihrer Geschichte eine Strategie auf „makroregionaler“ Ebene an. Und ich bin optimistisch, dass sie im Oktober vom Europäischen Rat verabschiedet wird. Sicherlich wird es an manchen Stellen noch Änderungen, Ergänzungen und Aktualisierungen geben!

Die Ostseestrategie ist einzigartig, innovativ und integrativ.

Sie ist einzigartig in der EU, weil sie erstmals in ihrer Geschichte unterschiedliche Ebenen miteinander zu einer langfristigen Strategie vereint: die europäische, die nationale und die regionale Ebene.

Sie ist innovativ in der EU, weil sie weit über die klassische Regionalpolitik hinausgeht und gleichzeitig Russland einbezieht.

Sie ist integrativ, da sie klare Ziele in den Bereichen Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur und Sicherheit für den Ostseeraum formuliert hat.

Die EU-Ostseestrategie steht für eine neue und innovative Sichtweise der Integration! Dieses Vorhaben könnte zum Vorbild für andere Regionen innerhalb der EU werden! Damit ist die Messlatte hoch gesteckt!

Welche konkreten Schwerpunkte verfolgt die EU-Ostseestrategie? Mit welchen Problemen muss sie rechnen? Und vor allem: Welche Rolle nimmt die Energiepolitik ein? Energiepolitik spielt in der EU – und vor allem im Ostseeraum - eine immer wichtigere Rolle: Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sind Kernziele der Europäischen Energiepolitik. Gerade in der Wirtschaftskrise ist eine sichere, effiziente und nachhaltige Energieversorgung notwendig!

Der Handlungsdruck im Energiebereich ist enorm. Jeden Winter erleben wir eine neue Energiekrise, in die Russland involviert ist. Damit sind auch die baltischen Staaten direkt oder indirekt betroffen, da sie nicht an das west-europäische Energienetz angeschlossen sind!

Bevor ich zu speziellen Fragen der Energiepolitik im Ostseeraum komme, möchte ich den Kerngedanken der EU-Ostseestrategie herausstellen.

Mit der Ostseestrategie verpflichten sich die Anrainerstatten enger bei der Entwicklung ihrer Region zusammen zu arbeiten und das enorme Entwicklungspotential dieser Region voll auszuschöpfen.

Schwerpunkt der Strategie sind Umwelt, Wirtschaft, Infrastruktur und (zivile) Sicherheit. Konkret bedeutet das:

Bei der Umwelt ist ein wichtiger Schwerpunkt der Erhalt des Ökosystems und der Biodiversität. Im Bereich der Wirtschaft ist ein Kernpunkt die Förderung der Innovationsfähigkeit und der Wirtschaft.

Bei der Infrastruktur ist die Überwindung der historischen Teilung der Energie-Netze und der damit verbundenen Energieversorgungssicherheit ein Kerngedanke. Die Schaffung eines gemeinsamen Energienetzes ist dringend erforderlich.

Bei der Sicherheit geht es zum Beispiel um die Schiffssicherheit und Verkehrsüberwachung sowie um die Schaffung ausreichender Krisenreaktionskapazitäten.)

Für die Umsetzung der Ostseestrategie bedarf es einer politischen Steuerung. Die Europäische Kommission, nationale Administrationen und regionale Organisationen (z.B. Helcom) werden intensiv - intensiver als bislang - zusammenarbeiten.

Die Kommission baut keine zusätzlichen Strukturen auf, wird kein zusätzliches Personal oder Budget für diese Strategie einsetzen. Sie koordiniert (wie bisher) die bestehenden Programme, übernimmt das Monitoring und die Fortschrittsberichte. Zudem ist die Kommission Koordinator zwischen den Ostseestaaten bei der praktischen Umsetzung der Projekte.

Jetzt ist Gelegenheit, das Profil verschiedener Institutionen zu schärfen, Ziele und Aufgaben klarer zu definieren. Zudem stehe ich als Mitglied der Ostseeparlamentarierkonferenz zu der Position, dass nicht alle Alles machen müssen!

Mit der EU-Ostseestrategie kehren außerdem Ziel und Mission in die regionale Zusammenarbeit zurück. Vernünftige und abgestimmte Kooperationen sind das Gebot der Stunde! Denn die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise lässt sich nicht im nationalen Alleingang meistern.

Ein elementares Innovationsfeld der Zukunft ist die Energieversorgungssicherheit. Sie muss in den kommenden Jahren Priorität haben. Der zügige Ausbau des Anteils erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung, der massive Ausbau von Offshore Windparks, der verstärkte grenzüberschreitende Stromtransfer und neue konventionelle Kraftwerke machen aus meiner Sicht den zügigen Ausbau des Höchstspannungs-Übertragungsnetzes (Supergrids) in Europa erforderlich. Noch ist die grenzüberschreitende Durchleitung innerhalb von Europa schwierig, weil die Übertragungskapazitäten an den Grenzen zu gering sind und Energie verloren geht. Durch höhere grenzüberschreitende Transportkapazitäten kann der Stromhandel mit den Nachbarländern erleichtert werden, was auch den Konsumenten in Europa zugute kommt.

Gerade die aus der Blockkonfrontation entstandene Spaltung der Energieversorgung zwischen West- und Osteuropa muss aufgehoben werden. Es ist ein Anachronismus, dass die Baltischen Staaten immer noch keine durchgehenden Stromversorgungsleitungen in Richtung Westeuropa haben. Projekte wie das bestehende Estlink - Stromkabel zwischen Estland und Finnland und andere in der Ostsee geplante Kabelverbindungen sind notwendige erste Maßnahmen!

Neben der Verminderung der Energieverluste beim Transport, der Einspeisung und der Speicherung von Strom ist ein weiterer wichtiger Punkt die Sicherheit bei der Gasversorgung. Momentan bezieht Europa etwa 24 Prozent seiner Gaslieferungen aus Russland. In diesem Zusammenhang ist das prominente Nordstream-Pipeline-Projekt durch die Ostsee von besonderer Bedeutung – nicht nur für Deutschland, sondern auch für Westeuropa! Um nicht in Abhängigkeit von einem einzelnen Lieferanten zu geraten, fördert die EU das Nabucco-Pipeline-Projekt, das von der Osttürkei durch Rumänien, Bulgarien und Ungarn nach Österreich führen soll. Das Nabucco-Projekt ist ein notwendiger zusätzlicher Kanal für die Gasversorgung und ein wichtiges Zukunftsprojekt zur Diversifizierung der Gasversorgung in Europa. Es steht aber in Konkurrenz zum Blue-Stream-Projekt.

Im Rahmen der Ostseestrategie gibt es für den Energiebereich ein wichtiges Ziel: das 20-20-20 Ziel für das Jahr 2020. Ziel ist:

  • die Emissionen um 20 bis 30% zu reduzieren,
  • den Anteil der erneuerbaren Energien um 20% zu erhöhen und
  • die Energieeffizienz um 20% zu steigern.

Das Ziel macht deutlich, dass Klimaschutz mit effizienter Energiepolitik Hand in Hand gehen muss, sich wechselseitig ergänzt, ja sich dynamisch zueinander verhält.

Aber auch politische Machtfragen bestimmen die Energiepolitik. Die Interessen von Energieanbietern, Verbrauchern und Umweltschutzverbänden müssen in Einklang gebracht werden. Mehr noch: Energiepolitik ist nicht low politics (einfache Innenpolitik), sondern gehört zu den high politics. Energiepolitik berührt die Sicherheitsfragen von Staaten, da die Versorgungssicherheit von Volkswirtschaften auf dem Spiel steht. Hinter Energieinteressen steht eine gewaltige politische, wirtschaftliche und militärische Macht. Die Cui Bono Frage (Wem zum Vorteil?) stellt sich oft. Gerade die Diskussion über die Ostseepipeline ist exemplarisch dafür.

Energieeffizienz ist Klimaschutz. Die EU-Ostseestrategie steht für eine regionale Energiestrategie. Im Bereich Energieeffizienz soll der Austausch von Informationen und die Kooperation in der Region erhöht werden. Auf der gemeinsamen Kooperationsebene wurden daher zwei Kernziele beschlossen:

  • Die Ostsee als eine „grüne Region“ etablieren. Vorbildcharakter haben hier Stockholm und Hamburg. Beide Städte sind für den European Green Capital vorgeschlagen.
  • Förderung eines effizienten Heizsystems, insbesondere die Förderung von ökologisch-effizientem Hausbau im Wohnungsbereich sowie Weitergabe des Wissens durch Netzwerke und Best-Practice Modelle.

Die hohe Innovationsfähigkeit im Bereich des Energiesektors wird genutzt. Dieses kann ich auch als stellv. Vorsitzender der Energiearbeitsgruppe der Ostseeparlamentarierkonferenz bestätigen! Die Arbeitsgruppe Energie, die sich schon früh für den Ausbau von Offshore-Windparks eingesetzt hat, dass die Ostseeregion verstärkt Offshore-Windparks baut. Dies erfordert die Länder des Ostseeraumes noch besser durch Leitungsnetze miteinander zu verbinden. Ziel ist es „Windstrom“ sicher und ohne relevante Energieverluste in die Netze der Ostseeanrainerstaaten einzuspeisen.

Diversifikation im Energiebereich und der Aufbau von Versorgungssicherheit hängen miteinander zusammen. Wind, Solarenergie und erneuerbare Energien sollen für einen ökologischen und unabhängigen Energiemix sorgen. Exemplarisch hierfür ist ein Offshore wind farm project, das für eine koordinierte länderübergreifende Zusammenarbeit im Bereich Windenergie steht.

Die Integration der baltischen Staaten in die europäischen Energienetze ist für die Energieversorgungssicherheit in der Ostseeregion sehr wichtig!

Abhilfe bringt der Baltic Energy Market Energy Interconnection Plan BEMIP. Der Aktionsplan deckt drei Bereiche ab:

  1. Integration des Elektrizitätsmarkts: Es soll ein regionaler Elektrizitätsmarkt in den baltischen Staaten entstehen unter Einhaltung der Binnenmarktvorschriften. Dieser Ansatz umfasst zum Beispiel die Abschaffung regulierter Tarife, Beseitigung grenzüberschreitender Beschränkungen und die uneingeschränkte Liberalisierung des Privatkundenmarktes.
  2. Stromverbundnetze: Neben dem nordischen Masterplan und dem Verbundnetz zwischen Polen und Deutschland im Bereich Windstromanlagen sind hier vor allem die Projekte zwischen dem nordischen, dem baltischen Raum und Polen von zentraler Bedeutung. Ihr Ausbau erhöht die Energiesicherheit der baltischen Staaten.
  3. Gasbinnenmarkt und -infrastruktur: Hier geht es darum, die Versorgungssicherheit durch Diversifizierung von Transportrouten und Energiequellen zu erhöhen. Dazu zählen zum Beispiel Verbundnetze, Flüssiggaseinrichtungen sowie Gasspeicher.

Dies ist freilich eine ambitionierte Aufgabe!

Ich würde sagen: Die Ostseestrategie bietet gute Ansätze im Bereich Energieeffizienz UND im Bereich der Energieversorgungssicherheit!

Die Ostseeregion verfügt über reiche Energievorkommen, geht aber mit ihnen sparsam um. So ist seit 1990 der Energieverbrauch stabil geblieben, gleichzeitig ist das GDP seit 1990 um 28% gestiegen. Auch sind die C02 Emissionen im Bereich Energie und Transport von 1990 bis 2005 um 13% reduziert worden. Das hängt einerseits mit ökonomischen Strukturveränderungen aber auch mit einer Verlagerung hin zu mehr erneuerbaren Energien zuammen. Nicht zuletzt hat ein anderes Konsumverhalten hier Wirkung gezeigt.

Die Projekte im Rahmen der Ostseestrategie werden die Energieeffizienz weiter erhöhen. Mehr noch: diese Projekte könnten sogar Best-Practice Projekte für ganz Europa werden. Hier liegt eine große Chance, die Ostsee in Europa weiter als Vorbildregion zu stärken. Chancen bestehen weiterhin in dem Ausbau von erneuerbaren und umweltfreundlichen Energien. Windparks in Dänemark und Deutschland sind Vorbild.

Von immenser Bedeutung ist die Einbindung Russlands, gerade für Deutschland als Energiepartner. Zwar ist die Russische Förderation kein EU Mitglied und an der Entwicklung der Ostseestrategie nicht beteiligt gewesen, aber Russland wird auf unterschiedlichen Ebenen eingebunden:

  • Erstens über Projekte der Helcom-Kooperation, da Russland Mitglied bei Helcom ist.
  • Zweitens über Projekte mit der Europäischen Kommission.
  • Drittens durch die Nördliche Dimension.

Demnach beugt die EU-Ostseestrategie einer weiteren Gefahr vor: der Isolation von Russland. Von einer Integration von Russland auf unterschiedlichen Ebenen (Umwelt/Wirtschaft) profitieren alle Staaten.

Der Ansatz entspricht dem Konsens der Ostseeparlamentarierkonferenz von 2007. Alle Infrastrukturprojekte der Ostsee sollen auf ihre Umweltverträglichkeit und ihre Vereinbarung mit der Energieversorgungssicherheit der gesamten Ostsee überprüft werden. Die EU-Ostseestrategie leistet dieses!

Eine Gefahr besteht jedoch trotzdem: Die Überlastung der Ostseestrategie. Konkret kann die Ostseestrategie trotz Best-Practice Beispielen und einer möglichen Vorbildfunktion nicht eine gemeinsame EU-Energiepolitik ersetzen!

Bisher ist der Europäischen Union nicht gelungen mit einer Stimme im Energiebereich zu sprechen, obwohl der Vertrag von Lissabon erstmals ausdrücklich Klauseln zur Energiesolidarität enthält: Art. 122 und Art. 194.

Weiterhin kann eine gemeinsame externe Energiesicherheitspolitik nur gelingen, wenn sie von einem internen funktionierenden Energiebinnenmarkt gestützt wird. Außerdem sollte die Versorgungssicherheit als eine Querschnittsaufgabe angesehen werden, indem sie bei jeder Politik mitbeachtet wird, zum Beispiel bei der Umweltpolitik. Es macht keinen Sinn beim Bau von Kohlekraftwerken eines Gegensatz Energieversorgungssicherheit und Umweltschutz aufzubauen. Bei der Energieeffizienz müssen langfristig sanktionierbare Zielmarken vorliegen, bisher hatten die Mitgliedstaaten daran wenig Interesse.

Dieses alles kann eine EU-Ostseestrategie keineswegs leisten, an diesen Punkten endet ihre Kompetenz und die EU als Akteur muss wieder politische Verantwortung übernehmen.