Kurt Bodewig Bundesminister a.D.

Plenarrede zur Debatte um die Lissabonstrategie

17.03.2006

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzte Redebeitrag verführt zu einer Anmerkung. Frau Kollegin Knoche, Zerrbilder, wie Sie sie gerade gezeichnet haben, leisten weder einen Beitrag zur politischen Kultur in Deutschland noch schaffen sie Sicherheit und Vertrauen bei den Menschen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Zuruf von der LINKEN: Sie haben wohl Angst vor der Wahrheit!)

Eines will ich ganz klar sagen: Der Außenminister dieser Regierung hat in Kontinuität zur Vorgängerregierung immer deutlich gemacht, dass wir an friedlichen Lösungen interessiert sind: sowohl was den Irak betrifft als auch mit Blick auf das Bemühen der europäischen Staaten angesichts der atomaren Entwicklung im Iran. Das können Sie nicht leugnen. Hier stehen Sie übrigens in einer sehr unguten Tradition. Ich erinnere nur an den Besuch Ihres Parteivorsitzenden bei Milosević. Sie können nicht einfach die realen Veränderungen in der Welt negieren und gleichzeitig diejenigen diffamieren, die versuchen, in einem internationalen Kontext friedliche Lösungen zu entwickeln. Das ist nicht seriös.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will auf das Thema dieser Debatte zu sprechen kommen, die Lissabonstrategie. Der Philosoph Friedrich Nietzsche - ich stimme ihm nicht in allem und erst recht nicht per se zu; aber an diesem Satz ist viel Wahres - hat einmal gesagt: "Wir leben in einem System, in dem man entweder Rad sein muss oder unter die Räder gerät." Wir befinden uns in einem globalen Wettbewerb. Die Entwicklungen in der Welt haben große Bedeutung für unsere eigene Ökonomie und damit auch für die Zukunftschancen der Menschen, die in unserem Land und in ganz Europa leben.

In Staaten wie Indien, China oder Brasilien hat sich eine große Dynamik entwickelt. Diese Dynamik muss für uns und für ganz Europa als ein Zentrum der globalen Welt Ansporn sein. Es handelt sich hierbei aber auch um bedrohliche Entwicklungen - ich denke zum Beispiel an den Aufbau der Energiereserven in China und das Leerkaufen der Stahlmärkte -, die unbedingt europäischer Antworten bedürfen. Ich bin dem Außenminister sehr dankbar, dass er die Themen Versorgungssicherheit, Energieeffizienz und erneuerbare Energien sowie die Möglichkeiten, unsere Abhängigkeit von bestimmten Energieträgern zu beenden, angesprochen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, dass diese Aspekte wichtig sind und dass wir in diesem Bereich vorankommen müssen. Gleichzeitig will ich aber auch sagen: Es macht keinen Sinn, in Panik zu verfallen. Deutschland ist die Exportnation Nummer eins. In den Bereichen Wissenschaft und Wirtschaftsentwicklung haben wir große Kapazitäten. Es täte uns gut, wenn wir unser Land wieder etwas selbstbewusster betrachten würden, als es in manchen verzerrten Darstellungen und Auseinandersetzungen, auch und vor allem im Wahlkampf, geschieht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich fand es richtig, dass Wim Kok die Lissabonstrategie genau analysiert und sie sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Sie ist ein wichtiges, großes und ehrgeiziges europäisches Projekt. Es hat Rückschläge gegeben - unter anderem hat der 11. September 2001 zu einer veränderten internationalen Lage geführt -, aber darauf stellen wir uns ein. An einer Stelle, lieber Michael Stübgen, möchte ich widersprechen: Ich glaube nach wie vor, dass es richtig ist, dass wir uns in Europa das Ziel setzen, der wissensbasierte Wirtschaftsraum, der wir sind, zu bleiben und ihn weiterzuentwickeln. Ich finde, dabei haben wir eine ganze Menge erreichen können. Wir müssen unsere Anstrengungen aber weiter verstärken, wie die nationalen Reformprogramme, die jetzt als Konsequenz aus dem Kok-Bericht gefordert sind, sehr deutlich machen. Wir sind dabei, die Reformschritte, die für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit notwendig sind - ich erinnere an die Agenda 2010 -, zu realisieren, und man kann mittlerweile erkennen, dass die ersten Veränderungen wirksam werden. Ich kann allen nur empfehlen, den neuen OECD-Bericht zu lesen, in dem - das wissen wir aus Vorabveröffentlichungen - deutlich stehen wird, dass Deutschland einen Aufholprozess begonnen und große Fortschritte gemacht hat. Für die nahe Zukunft wird eine gute Aufstellung Europas prognostiziert. Das ist doch etwas. Der Koalitionsvertrag dieser Koalition steht in Kontinuität mit den Reformen der Vergangenheit. Die Reformen zeigen jetzt Wirkung und sind von der Europäischen Kommission zu Recht positiv eingeschätzt worden. Ich finde, das lässt sich sehen und das sollten wir auch thematisieren.

(Beifall bei der SPD)

Das Ziel der Lissabonstrategie, den Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit zu betonen, ist richtig. Dies muss auf allen Entwicklungsfeldern und Handlungsfeldern geschehen: Energiepolitik, Innovation, Technologieförderung, stärkere Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen und vieles mehr. Mit dem nationalen Reformprogramm geben wir hierauf die richtigen Antworten. So stellen wir für die Bildung bis 2009 13 Milliarden Euro zusätzlich bereit. Das ist wichtig und wird die Erfolge bringen, die wir brauchen. Gleichzeitig müssen wir die Qualität von Beschäftigung den demografischen Erfordernissen anpassen. Das ist eine große Aufgabe, die nicht immer einfach ist, der wir uns aber bewusst stellen. Populismus ist leicht, aber ernsthafte Politik auf diesem Gebiet ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für unsere Zukunftsfähigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will aber auch sagen, Herr Löning: Wir werden Europa nicht nur über den Markt machen. Europa können wir nur mit den Menschen machen; wir müssen sie mitnehmen. Ich glaube, ein Grund für unseren Erfolg ist der soziale Frieden, die Gewissheit, teilzuhaben an den Erfolgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Damit sind in Europa bestimmte Projekte verbunden. Ich nenne an dieser Stelle die Dienstleistungsrichtlinie. Es war ein großer Erfolg, dass die SPE und die EVP im Europäischen Parlament einen Kompromiss gefunden haben und das Herkunftslandprinzip als eine Bedrohung aus der Dienstleistungsrichtlinie herausgenommen wurde. Auch jetzt sollen fremde Anbieter Zugang zu den Dienstleistungsmärkten haben, aber nicht um den Preis des Sozialdumpings, der Absenkung von Standards. Der Wettbewerb muss vielmehr auf der Ebene innovativer Produkte stattfinden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen habe ich Erwartungen an den Frühjahrsgipfel. "Flexicurity", das Zusammenfügen der Flexibilität, die wir den Menschen abfordern, und der Gewissheit der Menschen, sozial abgesichert zu sein, wird ein Thema sein. Mobilität der Einzelnen darf kein Gegensatz zu sozialer Sicherheit sein. Beides muss miteinander verbunden werden. Aber auch für die sozialen Sicherungssysteme gilt, dass wir in einer flexibleren Welt leben. Für mich ist wichtig, dass wir Investitionen thematisieren, zum Beispiel Investitionen in Bildung, in Weiterbildung, in lebenslanges lernen, in Kinderbetreuung und Chancengleichheit, in erneuerbare Energien und Energieeffizienz, und den Fokus der Forschung auf die großen Zukunftsthemen richten. Europas Licht unter den Scheffel zu stellen, ist falsch. Es gibt große europäische Projekte: die transeuropäischen Netze oder das Technologieprojekt "Galileo", das nur in Europa in dieser Konsequenz möglich war. Das zeigt: Europa hat Wirkung, wenn wir Europa ernst nehmen, wenn wir es fördern und wenn wir Europa als Entwicklungschance nicht nur für unser Land, sondern im Kontext aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen Zukunftsprojekte auf die Tagesordnung setzen und die nationalen Reformprogramme der einzelnen Mitgliedstaaten mit den Schwerpunkten der europäischen Politik abstimmen. Die Energiepolitik ist ein Beispiel dafür. Wir brauchen keine Vergemeinschaftung der einzelnen Subjekte von Politik in der EU. Wir können auf europäischer Ebene die nationalen Anstrengungen im Bereich Energie miteinander koordinieren, wobei jedes Land seinen eigenen Energiemix entwickeln muss. Es war richtig, dass wir die erneuerbaren Energien gefördert haben. Zurzeit werden sie weltweit nachgefragt. Es war aber genauso wichtig, dass wir auch Technologieprozesse auf den Weg gebracht haben; denn diese zeigen jetzt Wirkung.

(Beifall bei der SPD)

Abschließend möchte ich noch etwas sagen. Europa wird nicht funktionieren, wenn nur der wirtschaftsliberale Grundsatz gilt: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Europa wird nur funktionieren, wenn wir in gleichen Werten, aber auch in gleichen politischen Kontexten denken. Wenn uns das gelingt, dann kann Europa wieder ein Schwungrad werden für eine Entwicklung, die uns nach vorne bringt. Wir haben guten Grund, der deutschen Regierung für den Wirtschaftsgipfel Vertrauen entgegenzubringen. Damit muss natürlich die Aufforderung verbunden sein, die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit als Sicherung der Zukunft zukünftiger Generationen nicht aus dem Blick zu verlieren, aber gleichzeitig den Erhalt des Sozialmodells Europa sicherzustellen; denn das unterscheidet uns von anderen Zentren in der Welt. Das bedeutet Stärke und zugleich eine Chance für die Zukunft.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)