Kurt Bodewig Bundesminister a.D.

Neujahrsrede - Auf dem Weg in ein zukunftsfähiges Deutschland

15.01.2006

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder und Freunde der SPD, ich freue mich, dass ich heute hier sein kann, um mit Ihnen gemeinsam das neue Jahr zu begrüßen und einen Blick darauf zu werfen, was uns politisch erwartet.

Vor kurzem habe ich gelesen, ich sei Max Schmeling. Einem politischen Schlagabtausch nicht ganz abgeneigt, muss ich gestehen: ich bin es nicht. Aber in der Kampagne "Du bist Deutschland" wird zu vermitteln versucht, dass jeder in Deutschland Teil dieses Landes ist und Verantwortung für das Gemeinwohl trägt. Umso mehr möchte ich das "Wir" betonen. Diesen Ansatz sehe ich als den richtigen an, um in unserem Land stärker als bisher die Chancen zu betonen, statt sie zu ignorieren.

Das vergangene Jahr hat anders geendet, als wir dies zu dessen Beginn erwartet hatten, aber, um ehrlich zu sein, die jetzige Lage könnte schlechter sein. Ich bin zuversichtlich, dass die große Koalition die Dinge anpacken wird, die wir mit Rot-Grün nicht geschafft haben, auch weil wir im Bundesrat von der Union in der Vergangenheit aus reiner Parteidoktrin blockiert wurden. Diese Blockade dürfte nun nicht mehr bestehen. Insofern sehe ich den nächsten Jahren mit Hoffnung entgegen.

Ich möchte bei Ihnen dafür werben, dem Optimismus eine Chance zu geben. Bei Ihnen in Vereinen, im Schützenwesen und in Verbänden und in den Parteien, die nahezu alle hier vertreten sind, möchte ich das Gefühl vermitteln, dass dem deutschen Jammern ein Lächeln der Zuversicht entgegengestellt werden kann.

Ich nehme an, dass die Wenigsten von Ihnen den Koalitionsvertrag gelesen haben. Auch ich kann mir eine aufregendere Bettlektüre vorstellen. Aber einige spannende Punkte wird man doch darin entdecken. Viele davon mit sozialdemokratischer Handschrift - möchte ich Ihnen aufzeigen. Unser oberstes Ziel muss die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sein. Wir müssen uns in diesem Jahrzehnt noch stärker als bisher in der globalen Konkurrenz behaupten. Erfolgreich sind wir, wenn wir uns den grundlegenden Veränderungen stellen.

Die demographische Entwicklung in unserem Land

Das Ziel, zwischen 2010 und 2030 die Altersgrenze des Renteneintrittalters schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, ist erforderlich. Wir alle wissen, dass es heute für ältere Arbeitnehmer schwer ist, Arbeit zu finden. Doch, das wird sich ändern. Im Jahr 2050 wird - nach der neuesten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes - die Hälfte der Bevölkerung älter als 48 Jahre und ein Drittel 60 Jahre oder älter sein. Die Anzahl jüngerer Arbeitnehmer wird nicht ausreichen, um die Systeme so wie heute zu finanzieren. Das hört sich bei den aktuellen Arbeitslosenzahlen zwar noch unrealistisch an, aber die Demographie spricht hier eine eindeutige Sprache. Es wird zu wenige jüngere Arbeitnehmer geben. 1995 noch standen 100 arbeitenden Personen 37 Menschen im Rentenalter gegenüber. 2001 waren es schon 44 und bis 2030 werden 100 erwerbstätigen Personen 71 Rentner gegenüberstehen!

Eine Konsequenz daraus wird also sein, dass Arbeitnehmer länger arbeiten müssen, um den Ausgleich hier teilweise herzustellen. Bei einer längeren Arbeitszeit bis zu 67 Jahren würde dieser Quotient bei nur 47 liegen.

Zu dieser Entwicklung kommt, dass wir alle länger leben und somit länger Zahlungen aus den Rentenkassen erhalten, als dies noch vor 30 Jahren der Fall war.

Und die Frage bleibt, wer diese Entwicklung finanzieren soll.

Schon in ca. 10 Jahren werden wir einen eklatanten Mangel an Facharbeitern haben. Die Anzahl von Studienanfängern für Ingenieurberufe ist schon jetzt zurückgegangen.

Wir haben einen wichtigen Schritt in Angriff genommen, dass unser Land in den nächsten Jahrzehnten ein halbwegs stabiles Rentensystem aufrechterhalten kann. Wir haben mit der Riester-Rente eine kapital gedeckte Säule geschaffen.

Wirtschaft und Mittelstand

Als nächstes möchte ich etwas zur Wirtschaft in unserem Land sagen. Im Rhein-Kreis haben wir wichtige große, weltweit agierende Unternehmen wie RWE, Bayer oder Hydro Norsk, wir pflegen den Dialog und stützen Prozesse wie die BOA-Ansiedlungen oder Garzweiler II. Aber: Deutschland wird getragen vom Mittelstand. 99,7 Prozent deutscher Unternehmen sind mittelständische Unternehmen. Diese tätigen 40,8 % aller steuerpflichtigen Umsätze, 70,2 % aller Arbeitsplätze sind im Mittelstand zu finden und 81,9 % aller Mittelständler bilden Lehrlinge aus! Das sind, wie ich finde, beeindruckende Zahlen.

Doch zwischen den Mühlen der Weltkonzerne und Großunternehmen geraten die kleinen und mittleren Unternehmen zusehends in Bedrängnis. Das kann für unser Land zu einem ernsten Problem werden. Deshalb muss es unser Interesse auch sein, die Bedingungen der kleinen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Dieser Punkt wird u.a. im Koalitionsvertrag in Angriff genommen. Zwei wichtige Maßnahmen sind vorgesehen: durch den Abbau von Bürokratie soll der Mittelstand entlastet werden und die Betriebsnachfolge wird durch Veränderungen der Erbschaftsteuer begünstigt. Wir möchten dafür Sorge tragen, dass Familienbetriebe fortgeführt werden. Die Weiterführung eines Unternehmens darf nicht von zu hohen finanziellen Lasten gestoppt werden. Daher soll in dieser Legislatur eine Regelung zur Verringerung der Erbschaftssteuer bei Fortführung des Betriebes verabschiedet werden.

Ein starker Mittelstand in Deutschland kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Selbstverständlich kommt unser Land ohne Großkonzerne wie RWE oder Bayer nicht aus, doch diese Unternehmen bedürfen weniger des Schutzes durch den Staat. An dieser Stelle möchte ich kurz etwas zu dem sagen, was in den letzten Tagen über die Wirtschaft hier in der Region geschrieben wurde. Ein namhafter Herausgeber eines Düsseldorfer Börsenbriefes schreibt in der NGZ am Freitag (13. Januar), dass nach Meinung von Fachleuten die Wirtschaft im Rhein-Kreis Neuss anspringt - die Rede ist hier von 5 fetten Jahren, die uns bevorstehen.

Wir haben in den letzten drei Jahren mit der Agenda 2010 in einem nicht einfachen Prozess die Voraussetzungen hierfür geschaffen.

Forschung, Entwicklung und Bildung

Ein wichtiger Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit sind Investitionen in Bildung und Forschung. Diese Woche erst hat das Kabinett auf seiner Klausur in Genshagen beschlossen, für Forschung und Entwicklung 6 Milliarden Euro zusätzlich bereitzustellen. Bis 2010 sollen 3% des BIP für Forschung und Entwicklung erreicht werden.

Deutschland ist anders als viele Staaten mit Bodenressourcen oder anderen Kapazitäten auf seine Menschen angewiesen. Nur durch deren Köpfe, kann sich unser Land langfristig international behaupten. Wir werden niemals konkurrenzfähig sein mit den Arbeitern und deren Löhnen in Indien oder China. Deshalb müssen wir vor allem in Bildung und Forschung investieren. Wir müssen uns auf bestimmte Technologien konzentrieren und immer wieder Vorreiter für zukunftweisende Entwicklungen sein, dann kann unser Land seinen Standard halten und wir in wirtschaftlicher Prosperität leben.

Die Bedeutung der Europäischen Union

Wenn man die gerade erwähnte Zukunftsfähigkeit im Blick hat, so darf man einen wichtigen Faktor dabei nicht außer Acht lassen: Die Europäische Union. Die EU hat in den letzten Jahrzehnten, neben der Sicherung des Friedens auf unserem Kontinent, ganz erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen. Die Öffnung des EU-Binnenmarktes hat in allen europäischen Ländern positive Beschäftigungseffekte erzielt und ihnen größere Wirtschaftskraft verliehen.

Nun steht Europa vor der gemeinsamen Aufgabe, die globalen Veränderungen zu ihrem Vorteil zu wenden. Dass wir dabei geeint sind und als starker Wirtschaftspartner etwa der USA oder Chinas auftreten können, hat auch der Stimme Deutschlands in der Welt mehr Gewicht verliehen. Als größtes Land innerhalb der Europäischen Union haben wir eine besondere Rolle. Geht unsere Wirtschaft stark voran, können die anderen Mitgliedstaaten davon profitieren. Steckt unser Land in der Krise, so bleibt dies auch für die anderen Mitgliedstaaten nicht ohne Bedeutung.

Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung im März 2000 in Lissabon eine gemeinsame Strategie entwickelt, wie Europa gemeinsam zukunftsfähig gemacht werden kann. Das wesentliche Ziel ist es, Europa bis 2010 zu zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der in der Lage ist, dauerhaftes Wirtschaftwachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. In Nationalen Reformprogrammen wird derzeit für jedes Land ein Plan entwickelt, wie das Ziel der Strategie erreicht werden kann.

Ein Grund mehr für mich, mich in Brüssel und Straßburg zu engagieren, als Leiter der deutschen COSAC-Delegation und in den Parlamentarischen Versammlungen von Europarat, Westeuropäischer Union, NATO und der Ostseeparlamentarierkonferenz. Es gilt, Deutschland in Europa zu stärken. Europaweit ist man sich also einig, dass sich die EU mehr auf ihre Menschen stützen muss, darauf, dass diese gut ausgebildet sind und in Innovation und Forschung an der Weltspitze mitspielen. Diese Notwendigkeit hatte auch die Regierung Schröder erkannt und in die entsprechenden Bereiche investiert.

Familienpolitik

Die Regierung Schröder hat auch erkannt, dass zu Erreichung der Ziele Familienpolitik nicht das Nachsehen haben darf. Die ersten und wichtigen Schritte zu einem Paradigmenwechsel wurden von ihm eingeleitet und ohne die Agenda 2010 könnte die große Koalition jetzt nicht an diesen Punkt anknüpfen.

In dieser Regierungszeit wurden große Summen in die Kinderbetreuung gesteckt, in Ganztagsschulen und in die finanzielle Unterstützung von Familien mit der Erhöhung des Kindergeldes. Nun haben wir beschlossen, noch mehr Finanzmittel in die Betreuung von Kindern fließen zu lassen. Aber erst durch die Beschlüsse der Vorgängerregierung können diese Ausgaben ihre gewünschte Wirkung entfalten.

Der Koalitionsvertrag hat die Weichen dafür richtig gestellt.

In dem beschlossenen Konjunkturpaket konnte die große Koalition noch einen drauflegen: In Zukunft sollen berufstätige Eltern Kosten für die Betreuung ihres Kindes - etwa in einer Kita - bis zum Alter von sechs Jahren von der Steuer absetzen, sofern diese 1000 Euro überschreiten - bis maximal 4000 Euro. Bei Kindern vom 7. bis zum 14. Lebensjahr können berufstätige Eltern ihre Betreuungskosten schon vom ersten Euro an steuerlich geltend machen - jährlich bis zu 4000 Euro. Das Ganze hat ein Volumen von 460 Millionen Euro.

Daneben wurde auch das Elterngeld beschlossen: Für Kinder, die ab 1. Januar 2007 geboren werden soll das einkommensabhängiges Elterngeld eingeführt werden. Im ersten Lebensjahr des Kindes erhält der Elternteil, der auf Beschäftigung verzichtet, 67 Prozent seines letzten Nettoeinkommens - bis zu 1800 Euro monatlich. Für Eltern mit geringem Einkommen gibt es eine Ergänzung. Jede Familie erhält eine Mindestleistung von 170 Euro. Der Umfang hier beträgt drei Milliarden Euro.

Und es sollte gesagt sein: Bildung und Betreuung der Kinder ist dringend notwendig ebenso wie eine Trendumkehr bei der Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen.

Und in Dormagen beispielsweise geht unser SPD Bürgermeister Heinz Hilgers mit gutem Beispiel voran. Wegen des großen Interesses soll es bereits ab Mitte 2007 in der Stadt ein flächendeckendes Ganztagsangebot geben. An allen Grundschulen im Stadtgebiet soll eine Ganztagsoption eingeführt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir alle wissen aber auch, dass Politik nicht für alles verantwortlich ist, was in unserem Land passiert. Ich möchte an dieser Stelle gerne einmal sagen, was ich von der verwirrenden Stimmungsmache, wie sie heute in den Medien verbreitet wird, halte. Sehen wir uns doch allein einmal die Meldungen der letzten drei Wochen an: Am 28. Dezember lese ich in einer Regionalzeitung die Überschrift: "Positive Konsumentenstimmung in Deutschland."

Ein Online Blatt schreibt: "Beste Stimmung in Deutschland", diese Woche in der Süddeutschen: "Deutschland: Optimismus der Finanzakteure weiter gesteigert", und in der Welt am Mittwoch: "Investoren rechnen mit mehr Wachstum"

Das also sind die Meldungen, wie sie in Deutschland immer wieder zu finden sind und eigentlich positiv stimmen.

Doch leider sehe ich gleichzeitig die verantwortungslose Lust von Dramatisierung und Diffamierung mancher Medien, die eher in den Köpfen der Bürger hängen bleiben: Vor wenigen Tagen hat das Kabinett ein 25 Mrd. Euro Investitionspaket beschlossen. Man sollte meinen, das trägt zur guten Stimmung bei, doch - man irrt: Ein Wirtschaftsdienst meldet: "Institute: Wachstumspaket ohne durchgreifende Konjunkturwirkung", N-TV am 3. Januar: "DIW-Konjunktur-Prognose 2007 wieder lethargisch", Spiegel Online schreibt: "Wirtschaft kritisiert Konjunkturprogramm", Reuters meldet am 10. Januar: "Viel Kritik am Wachstumspaket der Regierung", und wieder - nur zwei Tage später, am 12. Januar meldet ebenfalls Reuters: "Konjunktur-Optimismus der Wirtschaftsverbände wächst"

Es darf nicht angehen, dass die Bürger in Deutschland mit Meldungen "Mal hü - mal hott" verwirrt werden und sich so immer weniger auf das verlassen können, was sie in den Zeitungen lesen. Wir brauchen nicht die schnellste News und die schrillste Überschrift. Wir brauchen hingegen wieder journalistischen Ethos. Das gilt von den überregionalen Zeitungen bis zum kleinsten Wochenblatt. Alle sind ständig auf der Suche nach dem nächsten Skandal. Dabei werden Skandale aufgedeckt, die gar keine sind. Und die Eigentlichen werden nicht erkannt. Ich bin der Meinung, dass Positives stärker betont und das Negative stärker überprüft werden sollte, bevor es in die Meinungsbildung der Menschen einfließt.

Und noch etwas scheint mir dabei ganz wichtig zu sein: Die Rückbesinnung auf die Regionen in denen die Menschen leben. In der globalisierten Welt sind regionale Bezugspunkte besonders wichtig. Diese bieten Halt und stärken so auch die Gemeinschaft, in der wir alle leben. Diese Region beispielsweise kann sich nicht nur für sich allein genommen, sondern auch im Vergleich durchaus sehen lassen. Wir haben hier ein Wissenschaftsviereck mit den Universitäten Duisburg - Essen, Düsseldorf, Köln und Aachen. Die RHTW Aachen beispielsweise läuft in den bundesweiten Rankings ganz vorne mit.

Auch der Energiestandort im Rheinkreis ist ein Fundament, mit dem sich die ganze Region verwurzelt fühlt. Die hier liegenden Ressourcen und unsere regionalen Stärken sind es, auf die wir uns berufen sollten. Und dabei kann jeder seinen Beitrag leisten - auch die Medien.

Dazu gehört aber gleichzeitig, dass man den Bürgern reinen Wein einschenkt. Und damit haben wir mit Gerhard Schröder begonnen. Die Agenda 2010 hat zum ersten Mal das Wagnis unternommen, die Probleme anzupacken, für die die anderen keinen Mut aufbringen konnten. Wir haben den Reformstau gelöst und damit dazu beigetragen, dass die große Koalition nun weiter Reformen umsetzen kann. Vieles davon konnten wir, das habe ich schon erwähnt, alleine nicht durchsetzen, weil der Widerstand zu groß war. Und hierin sehe ich die Chance der großen Koalition. SPD und Union haben begriffen, dass ein Stillstand für unser Land nicht zu verkraften ist. Die Zukunftsfähigkeit muss über allen Entscheidungen stehen, die wir zu treffen haben.

Wichtig dabei ist vor allen Dingen, dass die Bürger verstehen worum es geht. Wir dürfen sie nicht im Unklaren lassen über den Zustand unseres Landes und seiner Systeme. Gleichzeitig, und das halte ich für noch viel wichtiger, müssen wir ihnen Mut machen und ihnen deutlich machen, dass wir es mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung schaffen können, unser Land wieder an die Spitze Europas und Europa an die Spitze der Welt zu befördern.

Vielen Dank!